Bundesgerichtshof
Entscheidung vom 23.10.1952, Az.: III ZR 364/51 - BGHZ 7, 338
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts in Hamm vom 23. Oktober 1951 wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Revision fallen der Beklagten zur Last.
Tatbestand
Am 5. September 1949 liess der am ... geborene Kläger auf einer Wisse bei. B. einen Papierdrachen steigen, der nicht an einem Bindfaden, sondern an einem dünnen Bindedraht befestigt war. Dieser Draht berührte die in der Nähe befindliche Hochspannungsleitung der Beklagten. Der Kläger erlitt hierdurch erhebliche Verbrennungen.
Der Kläger hat geltend gemacht, dass die Beklagte unter Berücksichtigung seines eigenen mitwirkenden Verschuldens zum Ersatz der Hälfte des Schadens verpflichtet sei.
Er hat daher beantragt:festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm die Hälfte des Schadens zu ersetzen, der ihm durch die am 5. September 1949 in B. eingetretenen Starkstromverbrennungen in Zukunft entsteht.
Das Landgericht hat nach dem. Antrag des Klägers erkannt. Die Berufung der Beklagten ist vom Oberlandesgericht zurückgewiesen worden.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit der Revision und beantragt,das Urteil des Berufungsgerichts aufzuheben und unter Abänderung des landgerichtlichen Urteils den Kläger mit der Klage abzuweisen.
Der Kläger bittet,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Das Berufungsgericht sieht ohne Rechtsirrtum die Grundlage der erhobenen Klageansprüche in § 1a des Reichshaftpflichtgesetzes.
1.a)Die Revision ist zu Unrecht der Auffassung, der Unfall sei keine adaequate Folge der elektrisch geladenen Anlage, diese könne nicht einmal als conditio sine qua non bezeichnet werden. Es ist richtig, dass zunächst zu prüfen ist, ob die elektrisch geladene Anlage als "conditio sine qua non" anzusehen ist (BGHZ 2, 138 ff; 3, 261 ff [BGH 09.10.1951 - I ZR 20/51]). Dies ist aber der Fall, denn wäre die elektrisch geladene Anlage nicht vorhanden gewesen, so hätte der Schaden nicht eintreten können.
b)Dass diese Bedingung für den Unfall adaequat sei, hat das Berufungsgericht deshalb bejaht, weil der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung (Unfall) nicht so unwahrscheinlich gewesen sei, dass er nach der Auffassung des Lebens vernünftigerweise nicht in Betracht gezogen werden könne. Es bedürfe keiner besonderen Begründung für die Feststellung, dass das Vorhandensein einer Hochspannungsleitung nach den Erfahrungen des täglichen Lebens, und nicht nur unter besonders eigenartigen, nach dem regelmässigen Lauf der Dinge nicht in Betracht zu ziehenden Umständen geeignet sei, Verbrennungsschäden der erlittenen Art herbeizuführen. Dieser Ursachenzusammenhang werde auch durch das Verhalten des Klägers, nicht ausgeschlossen. Ein solcher Ausschluss sei nur dann anzunehmen, wenn der von dem anderen begangene Fehler so aussergewöhnlicher Art sei, dass kein Mensch vernünftigerweise mit ihm zu rechnen brauchte. Es sei aber nicht so aussergewöhnlich, dass spielende Kinder im Herbst ihre Drachen auch dort steigen liessen wo sich Hochspannungsleitungen in der Nähe befänden. Zwar sei es ungewöhnlich, einen Drachen mit einem Draht und nicht mit Bindfaden steigen zu lassen. Hierauf komme es jedoch nicht an, da nach der Kenntnis des Gerichts auch bei feuchten Bindfäden ein Unfall der vorliegenden Art. eintreten könne. Allerdings werde nicht verkannt, dass derartige Fälle, weil sie von gewissen, meist dem Zufall unterliegenden Voraussetzungen abhingen, immer selten seien.
Diesen Ausführungen kann die Revision nicht damit begegnen, sie habe Beweis dafür angetreten, dass ein derartiger Fall seit "Menschengedenken" nicht vorgekommen sei. Es kommt für die Frage der adaequaten Verursachung, die losgelöst vom Verschulden und insoweit auch der Voraussehbarkeit zu betrachten ist, nicht darauf an, ob ein gleichgelagerter Fall bereits vorgekommen ist oder nicht. Massgebend ist vielmehr, ob der Eintritt des Erfolges nur auf besonders eigenartigen, ganz unwahrscheinlichen und nach dem regelmäßigen Verlauf der Dinge außer Betracht zu lassenden Umständen beruht. Dies ist mit Recht vom Berufungsgericht verneint worden. Gerade die Tatsache, daß in ländlichen Gegenden Kinder häufig Drachen in der Nähe der vielfach vorhandenen Hochspannungsleitungen steigen lassen und auch eine leichte Unaufmerksamkeit zu einer Berührung mit der elektrisch geladenen Hochspannungsleitung führen kann, zeigt, daß eine hierdurch hervorgerufene Verletzung noch als adaequate Folge anzusehen ist. Ob dies auch dann gegeben wäre, wenn nur die Verwendung von Draht den Unfall hätte herbeiführen können, braucht nicht entschieden zu werden, da das Gegenteil vom Berufungsgericht aufgrund seiner besonderen Sachkenntnis festgestellt worden ist. Auch dem erkennenden Senat ist bekannt, daß ein solcher Unfall nicht einmalig ist, wie die Revision dartun möchte.
2.)Eine Haftung der Beklagten würde dann ausgeschlossen sein, wenn der dem Kläger entstandene Schaden durch höhere Gewalt verursacht worden wäre. Das Berufungsgericht hat ausgeführt, höhere Gewalt liege nur vor, wenn das Verhalten des Klägers sich als ein betriebsfremdes ungewöhnliches Ereignis darstelle, das mit den der Beklagten zumutbaren Mitteln nicht abzuwenden wäre. Das Spielen mit Drachen sei zwar ein von aussen kommender Vorgang; jedoch könne das Verhalten des Klägers nicht als ganz ungewöhnlich angesehen werden. Es sei vielmehr durch sein Alter bedingt, und es müsse unter diesen Umständen damit gerechnet werden, dass Drachen die Leitung berührten. Hierbei komme es nicht darauf an, ob der Unfall in seiner Eigenart nicht alltäglich sei.
Die Rüge der Revision, hierin liege eine Verkennung des Rechtsbegriffs "höhere Gewalt", ist nicht begründet. Nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts, die auch von der Revision nicht angegriffen wird, ist höhere Gewalt ein betriebsfremdes, von aussen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch die Äußerste nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmer in Kauf zu nehmen ist (RG JW 1931, 865). Das Reichsgericht hat unter Zugrundelegung dieser Begriffsbestimmung höhere Gewalt nur dann bejaht, wenn eine Einwirkung von aussen, die aussergewöhnlich und nicht abwendbar war, vorlag (vgl. Geigel 17. Kap; Wussow 1952 S 75; Friese RHG 1950 S 85; Enneccerus-Nipperdey § 200; RGDR 1943, 993 mit Hinweis auf weitere Entscheidungen).
Zur Annahme des Haftungsausschlusses durch den Einwand der höheren Gewalt ist danach neben der Forderung, das Ereignis müsse von aussen kommen und unabwendbar sein, noch das Merkmal der Aussergewöhnlichkeit, des Elementaren zu verlangen. Es kann bei dem hier vorliegenden Unfall - mag er auch selten sein - jedenfalls nicht davon gesprochen werden, er sei in diesem Sinne aussergewöhnlich, gewissermassen elementarer Art.
Der Hinweis der Revision, es handele sich insofern um ein aussergewöhnliches Ereignis im Sinne der höheren Gewalt, als der Unfall sich nur habe ereignen können, weil an Stelle von Bindfaden von dem Kläger Draht verwendet worden sei, geht fehl, weil er mit den tatsächlichen Ausführungen des Berufungsgerichts in Widerspruch steht. Das Berufungsgericht hat nämlich ohne erkennbaren Rechtsirrtum festgestellt, dass auch bei Benutzung von Bindfaden ein solcher Unfall möglich ist. Unter diesen Umständen kommt es nicht darauf an, ob der Kläger hier ausnahmsweise Draht benutzt hat. Das Berufungsgericht hat somit ohne Rechtsirrtum ein aussergewöhnliches Ereignis im Sinne der höheren Gewalt verneint.
3.)Die Revision meint noch, das ursächliche Mitverschulden müsse zur völligen Abweisung des erhobenen Anspruchs führen.
Das Berufungsgericht hat ein nach §§ 828 Abs. 2 BGB; 1a Abs. 4 RHG; 254 BGB zurechenbares Mitverschulden des Klägers darin gesehen, dass dieser in unmittelbarer Nähe einer Hochspannungsleitung seinen Drachen habe steigen lassen. Es meint, auch den Kläger als Jugendlichen träfe grundsätzlich die gleiche Verantwortlichkeit wie einen Erwachsenen, da er nicht bewiesen hatte, dass er die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit erforderliche Einsicht nicht gehabt habe. Die beiden Vernehmungen des Klägers hätten ergeben, dass er die Verstandesreife besessen habe, um die von der Stromleitung ausgehende Gefährlichkeit zu erkennen. Eine Minderung der Haftpflicht werde aber nicht durch eine möglicherweise vorliegende Ausserachtlassung der elterlichen Aufsichtspflicht herbeigeführt, da ein Verschulden des gesetzlichen Vertreters hier weder nach § 278 BGB noch nach § 831 BGB dem Kläger entgegenzuhalten sei.
Diese Ausführungen und die vom Berufungsgericht vorgenommene Abwägung der beiderseitigen Verantwortlichkeit lassen einen Rechtsirrtum zum Nachteil der Beklagten nicht erkennen. Die Abwägung und Verteilung des Schadens erfolgt aufgrund der dem Tatrichter obliegenden tatsächlichen Würdigung der Umstände. Sie wäre vom Revisionsgericht nachprüfbar, wenn die Verteilung des Schadens auf einer rechtlich nicht zutreffenden Beurteilung der beiderseitigen Verantwortlichkeit beruhen würde. Das Berufungsgericht hat ausgeführt: "Bei der gemäss §§ 1a Abs. 4 RHG, 254 BGB zu treffenden Abwägung der Schadensverursachung durch die normale Betriebsgefahr der Hochspannungsleitung gegenüber der schuldhaften Verursachung des Klägers müßte dieser an sich den größeren Haftungsanteil tragen. Mit Rücksicht auf die ihm zur Seite stehenden Schuldminderungsgründe ist jedoch die vom Landgericht getroffene Schuldverteilung nicht zu beanstanden." Als solche Gründe hat das Berufungsgericht die mit dem jugendlichen Alter des Klägers verbundene geringe Besonnenheit sowie seine gegenüber anderen gleichaltrigen Kindern etwas zurückgebliebene geistige Entwicklung und Überlegungsfähigkeit angesehen.
In diesen Ausführungen liegt auch nicht, wie die Revision meint, ein Widerspruch. Wenn das Berufungsgericht davon ausging, dass ein Erwachsener bei der gleichen Sachlage den größeren Teil des Schadens hätte tragen müssen, so konnte es zu Gunsten des Klägers das mitursächliche Verschulden aus in dessen Person liegenden Gründen geringer erachten und somit zu einer anderen Abwägung und Verteilung des Schadens gelangen. Dass die angeführten Gründe das Verschulden mindern, unterliegt keinen Bedenken.
Die Revision war daher mit der Kostenfolge aus § 97 ZPO zurückzuweisen.